Craniocervicale Instabilität, cervicomedulläres Syndrom, Tonsillenektopie

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Überblick

Details zur Erkrankung

Die Schwäche des Bindegewebes bei Patienten mit Erkrankungen der Ehlers-Danlos Gruppe und des Marfan-Syndroms kann zur Instabilität der Gelenke zwischen dem Kopf und dem ersten Halswirbel wie auch zwischen erstem und zweitem Halswirbel kommen3. Diese Instabilität manifestiert sich zunächst darin, dass es bei Beugebewegungen des Kopfes zu einem geringen Vorwärtsgleiten des Kopfes gegenüber dem ersten Halswirbel kommt. Abbildung 1 und Abbildung 2 zeigen dieses Phänomen, welches auch als „pivoting“ bezeichnet wird. Abbildung 3 zeigt im Detail welche radiologischen Konsequenzen diese Instabilität hat, wobei es schlussendlich klinisch zu einer Reizung des unteren Hirnstammes, der unteren Hirnnerven und auch des oberen Halsmarkes (roter Stern in Abbildung 1) kommt. Die ständigen abnormalen Bewegungen zwischen Kopf und oberen Halswirbel können auch zu einem Tiefertreten der Kleinhirntonsillen führen (die Kleinhirntonsillen sind der unterste Anteil der Kleinhirnhemisphären; das Tiefertreten dieser Strukturen wird auch als Ektopie bezeichnet), welches zu einer Zunahme der Reizung des unteren Hirnstammes und oberen Halsmarkes führen kann (siehe Abbildung 4). Dieses Reizungssyndrom wird als cervicomedulläres Syndrom bezeichnet1,3.

Symptome

Tabelle 1 zeigt die Daten einer der ersten Studien aus den USA an 357 Patienten, welche sich mit dem cervicomedullären Syndrom beschäftigt habt3. Es zeigt sich hier, dass betroffene Patienten bereits im Teenageralter erste Symptome entwickeln. Leider wird diese Erkrankung oft nur sehr verzögert diagnostiziert. Wie der Tabelle 1 zu entnehmen vergehen im Schnitt 12 Jahre bis zur Diagnose. Die Daten der Studie in Tabelle 1 wurden im Jahr 2007 veröffentlicht, zu welchem Zeitpunkt noch sehr wenig Kenntnis über diesen Zustand herrschte. Tiefer stehende Kleinhirntonsillen kommen nicht nur bei Patienten mit Bindegewebserkrankung vor, sondern auch bei Patienten mit sogenannter Chiari Typ I Malformation. Die Therapie dieser beiden Erkrankungen (craniocervicale Instabilität mit Tonsillenektopie und Chiari I Malformation) sind aber verschieden. Patienten mit Chiari I Malformation, welche ausgeprägte Beschwerden haben werden mittels einer operativen Dekompression des Hinterhauptknochens behandelt. Diese Operation ist jedoch für Patienten mit craniocervicale Instabilität nicht die Richtige. Wie der Tabelle 1 zu entnehmen ist, wurden viele Patienten mit craniocervicaler Instabilität und Tonsillenektopie in der Vergangenheit fehldiagnostiziert (es wurde damals gedacht die Patienten litten an einer Chiari I Malformation). Entsprechen wurde bei mehr als einem Drittel dieser Patienten auch eine falsche Operation durchgeführt (Dekompression des Hinterhauptknochens), was in den meisten Fällen zu einer Verschlechterung der Symptome führte. Das allgemeine Wohlbefinden von Patienten mit einer Erkrankung kann in Form des sog. Karnofsky Index (oder auch Karnofsky Performance Index) bezeichnet werden, wobei 100% auf dieser Skala einem normalen, gesunden Menschen ohne jeglicher Symptome entspricht und 0% einem Patienten der an einer Erkrankung verstorben ist. Tabelle 2 zeigt diesen Karnofsky Index im Detail. In der 2007 veröffentlichten Studie war der Allgemeinzustand der Patienten mit cervicomedullärem Syndrom bei 68%, was im Schnitt bedeutete, dass der Patient so schwer von den Symptomen betroffen ist, dass er nicht Arbeiten kann und auch teilweise Gelegenheitshilfe im Alltag benötigt.

Wie bereits weiter oben erwähnt verursacht die craniocervicale Instabilität mit Tonsillenektopie das cervicomedulläre Syndrom. Dies ist gekennzeichnet durch Funktionsstörungen des unteren Hirnstammes, des obersten Rückenmarksabschnittes des Halses wie auch der unteren Hirnnerven. Die Tabelle 3 zeigt konkrete Beschwerden, welche dem cervicomedullären Syndrom zuzuordnen sind. Die Daten der Tabelle 3 stammen aus der gleichen amerikanischen Studie aus 2007 wie die Daten der Tabelle 1. Es sei zu erwähnen, dass die meisten der in Tabelle 3 angeführten Symptome auch andere Ursachen haben können. Aus diesem Grund ist es bei Patienten mit EDS oder Marfan-Syndrom wichtig eine Beurteilung des Patienten durch eine Gruppe von Ärzten verschiedener Fachdisziplinen durchzuführen (je nach Symptomen, beispielswiese Neurologin/e, Neurochirurgin/e, Rheumatologin/e, Kardiologin/e, und auch andere Disziplinen).

Verlauf

Zum sogenannten natürlichen Verlauf der craniocervicale Instabilität, der Tonsillenektopie und des resultierenden cervicomedullären Syndroms ist wenig bekannt. Bei vielen Patienten besteht jedoch ein chronischer Verlauf, das bedeutet, dass die Symptome ohne gezielte Behandlung (siehe unten) dauerhaft bleiben. Bei manchen Patienten kann es im Verlauf ohne Therapie auch zu einer Zunahme der Beschwerden kommen. Es sei erwähnt, dass eine markante Verschlechterung der Beschwerden auftreten kann, falls von einem behandelten Arzt die genaue Diagnose verkannt und eine falsche Therapie, oder Operation durchgeführt wird. Wie weiter unten ausgeführt, kam es in der Vergangenheit bei vielen Patienten dazu, dass nur die Tonsillenektopie erkannt und operativ Therapie wurde, während der craniocervicale Instabilität nicht erkannt (und operativ therapiert wurde). Bevor die Kenntnisse der Forschung auf heutigem Stand waren, wurde bei bis zu einem Drittel der Patienten mit Instabilität und Tonsillenektopie die falsche Operation durchgeführt, was in den meisten Fällen zu einer Verschlechterung der Beschwerden führte. 

Diagnose

Die Diagnose des cerviomedullären Syndroms folgt auf Basis eines ausführlichen Gesprächs mit Diskussion aller Symptome, körperlichem Untersuchungsbefund durch einen Arzt mit Expertise in diesem Bereich. Der Nachweis einer craniocervicale Instabilität ist etwas komplexer, da es eine spezielle Bildgebung benötigt. Ein MRI des Patienten in sitzender Körperposition mit Kopf in neutraler Haltung und auch in Beugung- und Streckhaltung sowie ein CT des Kopfes in Seitrotation sind nötig um mit Sicherheit eine Instabilität zwischen Kopf und erstem sowie erstem und zweiten Halswirbel nachweisen zu können. Die Tonsillenektopie kann auch in einem normalen MRI (also MRI des Kopfes in Neutralposition und Rückenlage) nachgewiesen werden. Je nach Befundkonstellation kann es notwendig werden noch weitere ergänzende MRI Sequenzen durchzuführen. Zum Nachweis einer Instabilität zwischen Kopf und erstem Halswirbelkörper werden dabei die in Abbildung 3 gezeigten radiologischen Kriterien verwendet. Ist die Diagnose einer Instabilität gestellt erfolgt als nächster Schritt eine Ruhigstellung des Kopfes in einem harten Halskragen für 4 bis 6 Wochen. In dieser Zeit ist der Patient angehalten eine „Tagebuch“ seiner Beschwerden zu führen. Es wird erwartet, dass die Ruhigstellung zu einer Besserung der Beschwerden führt. Sind all diese Kriterien erfüllt (Beschwerdebild, radiologischer Befund, Ansprechen auf Ruhigstellung im harten Halskragen), so wird bei schweren Symptomen eine chirurgische Stabilisierung durchgeführt. Es kann noch davor eine gezielte physiotherapeutische Stärkung der Nackenmuskulatur durchgeführt werden in der Hoffnung die Beschwerden hierdurch etwas zu reduzieren.

Behandlung

Als erster Schritt nach Nachweis einer craniocervicale Instabilität mit cervicomedullärem Syndrom kann eine gezielte physiotherapeutische Stärkung der Nackenmuskulatur initiiert werden. Sollte diese keine Besserung bringen so kann dem Patienten eine chirurgische Stabilisierung / Sanierung empfohlen werden. Wie in Abbildung zu sehen werden dabei der Kopf und die ersten beiden Halswirbelkörper mit Titanschrauben und -stäben stabilisiert. Während der Operation wird dabei das Gelenk zwischen Kopf und erstem Halswirbel in eine Position gebracht, bei der alle in Abbildung 3 angegeben Parameter so normal wie möglich sind. In vielen Fällen wird im Anschluss ein kleines Stück einer Rippe entnommen und entlang des Fixierungsmaterials eng am Knochen anliegend eingelegt. Dies bewirkt, dass es in den Wochen nach der Operation zu einer guten Knochenheilung kommt. Bei Patienten bei denen auch eine Tonsillenektopie besteht muss im Rahmen der gleichen OP eine Dekompression des Hinterhauptbeines durchgeführt werden. Hierbei wird ein etwa 3x3cm grosses Knochenstueck des Hinterhauptknochens auf Höhe der Kleinhirntonsillen entfernt, um so die Einengung des Hirnstammes durch die tief stehenden Tonsillen zu behandeln. Die klinische Besserung nach dieser Operation kommt meist erst im Verlauf über Wochen und Monate. So zeigt die Abbildung 6 die allgemeine Verbesserung der Patienten einer grossen amerikanischen Studie im Verlauf über 5 Jahre nach der Operation gemessen am Karnofsky Performance Index. Es ist zu sehen, dass trotz gelungener OP im Durchschnitt keine komplette Beschwerdefreiheit erlangt werden kann (diese entspräche einem Karnofsky Wert von 100). Die selbe Studie berichtete von folgenden operativen Komplikationen: Wundinfekt in 5% der Patienten, keine weiteren Komplikationen. Weiters ist zu beachten, dass im Fall der Entnahme eines Rippenstueckes, es fuer einige Monate zu Schmerzen an der Entnahmestelle kommen kann.

Referenzen

1.           Henderson FC, Sr., Francomano CA, Koby M, Tuchman K, Adcock J, Patel S: Cervical medullary syndrome secondary to craniocervical instability and ventral brainstem compression in hereditary hypermobility connective tissue disorders: 5-year follow-up after craniocervical reduction, fusion, and stabilization. Neurosurg Rev 42:915-936, 2019

2.           Henderson FC, Sr., Henderson FC, Jr., Wilson WAt, Mark AS, Koby M: Utility of the clivo-axial angle in assessing brainstem deformity: pilot study and literature review. Neurosurg Rev 41:149-163, 2018

3.           Milhorat TH, Bolognese PA, Nishikawa M, McDonnell NB, Francomano CA: Syndrome of occipitoatlantoaxial hypermobility, cranial settling, and chiari malformation type I in patients with hereditary disorders of connective tissue. J Neurosurg Spine 7:601-609, 2007